Es ist schwer für Angehörige, wenn sich nahe Verwandte auf das Sterben vorbereiten. Es ist eine Zeit, in der man innehalten möchte, Momente des Lebens in Stille Revue passieren lassen möchte und sich vielleicht gemeinsam an das Vergangene erinnern möchte. Wenn man pflegende Angehörige ist, lässt einem dazu niemand Zeit.
Das fängt schon bei der Definition an, was denn ein „pflegender Angehöriger“ ist. Muss man dazu jemanden zu Hause pflegen oder gilt es auch, wenn sich der kranke Mensch in einem Pflegeheim oder einem betreuten Wohnprojekt befindet?
Für das Finanzamt, für die Pflegekasse, für Pflegedienste, für Heime, für Arbeitgeber und für den Rest der Welt definiert sich eine pflegende Angehörige als jemand, der seinen kranken Angehörigen im häuslichen Umfeld, bestenfalls in der eigenen vier Wänden, pflegt. Befindet sich der Pflegebedürftige in einer betreuten oder pflegerischen Einrichtung ist man lediglich ein Angehöriger, der sich gefälligst zu kümmern hat. So jedenfalls wird es einem vermittelt. Da erhebt es sich, das moralische Fallbeil.
Und dann schwebt es über einem. Ständig.
„Was, Sie waren diese Woche nur einmal zu Besuch!?“ Zack. Da fällt das Beil.
„Melden Sie sich bitte ab, wenn Sie drei Tage in den Urlaub fahren.“ Zack. Da fällt das Beil.
„Organisieren Sie dies, liefern Sie das.“ Zack. Da fällt das Beil.
Als Mensch, der seine Angehörige nicht selbst zu Hause pflegt, wird man mit einem Stigma belegt. Und man wird das Gefühl nicht mehr los, sich ständig dagegen verwehren, sich ständig rechtfertigen zu müssen.
Niemand fragt danach, wie es einem selbst geht. Ob man berufstätig ist. Ob man einen 11-Stunden-Arbeitstag hat, weil man zur Arbeit pendelt. Ob man die vergangenen zwei Jahresurlaube komplett in die Organisation der Pflege gesteckt hat. Ob man seit eineinhalb Jahren kein freies Wochenende mehr ganz für sich hatte. Völlig egal. Das steht in unserer Gesellschaft nicht zur Debatte.
Sterben und Tod sind einfach nicht so ein hübsches Thema wie Geburt und Kindererziehung. Für junge Eltern gibt es Elternzeit, Betreuungsgeld, zusätzliche Urlaubstage, Windeln und Milupa kostenlos, bis es den Kids zu den Ohren wieder rauskommt. Und vor allem gibt es Verständnis von allen Seiten. Kind krank? Klar, ab nach Hause mit dir! Und das ist ja auch gut so, keine Frage. Kinder sind kleine, hilflose Wesen, die Betreuung brauchen. Genauso wie alte, kranke Menschen.
Wer einen Angehörigen in den Tod begleitet bekommt aber im Vergleich zu glücklichen, frischgebackenen Eltern nix. Pflegezeit? Darüber kann sich die Politik nicht einig werden. Man könne ja unbezahlten Urlaub nehmen, wird einem gesagt. Schön, wer sich das finanziell leisten kann. Die wenigsten nehme ich an. Windeln und notwendige hochkalorische Zusatznahrung? Ja. Schaffen Sie das mal ran, Frau Angehörige und bezahlen Sie das bitteschön selbst. Antrag bei der Krankenkasse auf Kostenübernahme? Abgelehnt.
Die „Verhandlungen mit den Kostenträgern“ ist überhaupt so eine Sache. Als Vollzeitarbeitnehmerin in einem Großraumbüro sitzend ist es überaus schwierig, während der Arbeitszeit etwas telefonisch zu regeln. Denn man ruft ja nicht bei der Pflegekasse an, hat sofort jemanden kompetentes am Apparat und kann den Sachverhalt in wenigen Minuten klären. Nein. Erst ist besetzt. Fünf Minuten später ist der Anrufbeantworter dran, eine halbe Stunde später hat man jemanden an der Strippe, der nicht zuständig ist. Zwischendurch hat man selbst Termine oder muss tatsächlich was arbeiten. Gegen Mittag ist gar keiner zu erreichen. Am Nachmittag ist keine Sprechzeit. Und dann möchte man ja auch nicht unbedingt jedes unappetitliche Pflegethema am Telefon vor den eigenen Kollegen im Großraumbüro erörtern.
Eigentlich gut, wenn man einen Freiberufler zum Manne hat. Im Prinzip kann der sich schon mal einen Tag lang ans Telefon hängen, aber andererseits ist das auch bei ihm teuere Arbeitszeit, in der wichtige Projekte liegenbleiben. Also, auch keine Lösung. So ziehen sich Verhandlungen mit den Kostenträgers hin und man selbst bleibt schon mal monatelang auf den Pflegekosten sitzen. Und die summieren sich mit der Zeit. Und so trifft einen auf diesem Wege neben dem moralischen Fallbeil zwischendurch auch noch die Finanzkeule. Auch das macht das Aushalten von moralischem Druck nicht einfacher.
Aber man kann ja unbezahlten Urlaub nehmen, dann hat man ja mehr Zeit zum Telefonieren mit den Kostenträgern. Allerdings hat man dann vielleicht kein Geld, um die Zeit bis zur Genehmigung der Kostenübernahme zu überbrücken. Ein teuflischer Kreislauf.
Die Pflege von Angehörigen ist ein teuflischer Kreislauf. Immer wenn man endlich einmal das Gefühl hat, alles erledigt zu haben, wenn man hofft, sich mal wirklich um den Menschen kümmern zu können, oder einfach auch nur glaubt, mal ein bisschen Zeit für sich selbst zu haben, saust das nächste Fallbeil herab.
Und man ist nirgendwo mehr davor sicher. In die Pflegeeinrichtung traut man sich irgendwann kaum noch rein, in der Angst, gleich von einer Pflegekraft angequatscht zu werden, man solle dies oder jene erledigen. Zu Hause wird das Telefon zur bangen Qual. Bei jedem Klingeln denkt man sofort: Was habe ich jetzt wieder vergessen?
Was ich hier beschreibe, ist kein Einzelfall. Leider. Andere pflegenden Angehörigen erzählen Ähnliches. Das Problem ist bekannt. In Laienforen und in der Fachwelt wird seit Jahren, eher Jahrzehnten über die Nichtanerkennung der Leistung pflegender Angehöriger diskutiert. Geändert hat sich bislang daran nichts.
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