Ich arbeite an einem Ort, an dem es ganz normal ist, wenn sich die Fahrstuhltür öffnet und heraus grüßt der Außenminister. In der Kantine stehe ich manchmal in der Schlange hinter einem vollbärtigen Präsidenten. Dieser Tage lächelte mir gerade ein potenzieller sozialdemokratischer Kanzlerkandidat zu. Der amtierenden Chefin unseres Landes begegnet man allerdings selten. Gestern sah ich ihr kurz Backstage bei einer Rede vor dem Hohen Hause zu. Politpromis im Vorübergehen zu treffen gehört also bei mir zum Alltag wie die verspätetet S-Bahn. Dennoch gibt es immer mal wieder Situationen, die herausstechen und mich beseelen. Und das war vor kurzem der Fall…
Ich hatte Feierabend und war auf dem Weg zum Hinterausgang des Bürogebäudes. In einem langen, dunklen Gang bewegte sich etwa 50 Meter vor mir eine Gruppe von drei Personen ebenfalls Richtung Ausgang. Neben einer langbeiniger Blondine und einem großen Schrankkoffermann schleppte sich ein offensichtlich alter Mann mit einem Stock gen Sicherheitsschleuse. Da draußen herrlich die Sonne schien, hatte ich bereits die Sonnenbrille rausgeholt, im Haar platziert und meine normale Guckebrille (ohne die ich sonst in zwei Meter Entfernung an Kollegen vorbeilaufe, ohne diese zu erkennen, geschweige denn zu grüßen!) verstaut. Sprich: Ich sah also nur verschwommen, wer da vor mir herging. Aber allein der Habitus des alten Mannes hatte mich bereits ins Grübeln darüber gebracht, wer denn von unseren Leuten hier so alt ist, dass er am Stock geht.
Die Dreiergruppe hatte inzwischen das helle Tageslicht erreicht und war dabei, sich an einer parkenden Limosine mit geöffneten Schlag zu verabschieden. Dann trat ich ins Licht, schnippte mir schwungvoll die Sonnenbrille (mit Sehstärkengläsern!) auf die Nase und sah mich – nun endlich wieder mit voller Sehkraft ausgestattet – Henry Kissinger gegenüber. Wow! Ich stockte kurz im Gehen, sah ihn an, er sah mich an, und dann huschte ein kleines Lächeln über sein alten Gesicht. Ich lächelte zurück und ging weiter. Ein kleiner Schritt für mich und kein großer für die Menschheit. Und dennoch ein Meilenstein in meinem Leben. Irgendwie.
Henry Kissinger. Eine Figur der Zeitgeschichte. Einer der bedeutensten Politiker des 20. Jahrhunderts. Nationaler Sicherheitsberater, Watergate-Überlebender, US-Außenminister, Friedensnobelpreisträger. Ein Mann, der mit JFK, Nixon und Mao Zedong frühstückte als ich die Nutellabrote noch als Flüssignahrung zu mir nahm. Er soll was mit Gina Lollobrigida und der Gabor gehabt haben. Und zusammen mit Joschka Fischer hätte er fast den Nahost-Konflikt beendet.
Auch wenn ich jetzt nicht unbedingt mit Kissingers politischen Ausrichtung sowie seinem Handeln übereinstimme, so einem Menschen gegenüberzustehen, hat doch etwas Erhebendes. Es ist einfach nochmal anders, jemanden unvermittelt zu treffen als im Vorübergehen, wenn eine kreischende Menschenmenge mit Autogrammblöcken alles überdeckt. Dies war mein ganz stiller, ganz persönlicher Kissinger-Moment. Ich werde ihn lange in schöner Erinnerung behalten.
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