Garten first

Garten first

Als wir dieses Haus hier im Westerwald besichtigten, verliebten wir uns sofort in den Garten. Nicht, weil es ein besonders strahlender, gut gepflegter Garten war, nein, es war die Liebe auf den ersten Blick für einen Garten, der verzweifelt nach Hilfe schrie. Es war ein räudiger Garten, ungepflegt, missachtet, brach.

Ehemals war der Garten in guten Händen gewesen, wie uns alle Nachbarn berichteten. Die Vorvorbewohnerin hatte ihn wohl sehr schön geplant und gepflegt. Dann wurde sie krank und der Garten verkam. Bäume wurden gefällt und Unkrautfolie übernahm das Regiment, wurde weiträumig ausgelegt und überdeckte nicht nur Unkraut, sondern auch alles andere. Das Unkraut scherte sich allerdings einen Dreck um die Folie und gedieh trotzdem prächtig. Von allen anderen Pflanzen hielten nur die robustesten durch, Hortensien, Fetthennen, Stolze Heinriche, Rhododendren und Forsythien gibt es nun zu Hauf und noch sehr viel Platz zum gestalten.

Deswegen fiel nur wenige Tage nach unserem Einzug der Beschluss: Garten first! Lampen und Bilder lassen sich auch noch im Winter anbringen. Im Haus steht alles soweit, dass es funktioniert. So haben wir uns, kaum waren die meisten Kartons ausgepackt, in die Gartenarbeit gestürzt.

Power Gardening

Es gab jede Menge zu tun. Da wurde Folie aus dem Boden gezogen (gern auch mehrlagig…). Es wurde das Dach vom Gartenhäuschen gedeckt, das Häuschen gestrichen, es wurde umgegraben, gemulcht und gepflanzt. Wege wurden angelegt und mit Einfassungen versehen, ein Schattensitzplatz wurde befestigt und gekiest. Und so haben wir gerade mal sechs Wochen nach unserem Einzug schon einen Hauch von einem schönen Garten. Viele wundervolle Pflanzen sind bei uns eingezogen, Freunde brachten Ableger vorbei, Beete wurden gefüllt und Freude breitete sich aus.

Nicht nur wir freuen uns. Auch Flora und Fauna sind sehr entzückt. Morgens nimmt eine Kohlmeisen-Familie mit uns ihr Frühstück ein, abends schauen Herr und Frau Drossel auf einen Wurm und einen Insektencocktail vorbei und zwischendurch summen und brummen Bienen und Hummeln und Schmetterlinge durch unsere kleine Blütenpracht. Unterm Dach wohnen Wespen, und dem Igel haben wir ein Winterquartier unter den Büschen hinten im Garten angelegt. Das Bienenhotel ist ausgebucht bis November und das Marienkäferhotel steht in strategisch günstiger Position zum Salatbeet.

Garten first

Hier ein paar erste Impressionen:

Landleben reloaded

Landleben reloaded

Entspannung im Garten

Ursprünglich komme ich ja vom Land. Ich kenne Weite. Ich kenne Stille. Ich kenne Kleinbürgerlichkeit. Ich kenne ländliche Spießigkeit. Weite bedeutete damals, als ich noch auf dem Land lebte,  so schnell wie möglich den Führerschein machen, um wegfahren zu können. Stille bedeutete damals Langeweile und Öde. Kleinbürgerlichkeit und Spießigkeit bedeuteten, nichts tun zu können, ohne dass die Nachbarn, die Vereinsmeier und Sonstige es sofort mitbekommen bzw. getratscht bekommen hätten. Landleben bedeutete für mich als Jugendliche: So schnell wie möglich weg da.

Und das habe ich damals auch so schnell wie es nur irgendwie ging realisiert. Kaum war das Abitur in der Tasche, hatte ich meine erste eigene Wohnung in der nächstgelegenen Universitätsstadt angemietet und tauschte die mittelgroße Kleinstadt gegen eine mittelkleine Großstadt. 100.000 Menschen mehr bedeuteten 100.000 mal mehr Anonymität.

Pro und Contra Eiertausch

So habe ich nun über die letzten 35 Jahre in immer größerer Anonymität gelebt. 120.000 Einwohner, 450.000 Einwohner, 3,5 Millionen Einwohner. Als ich nach Berlin kam, habe ich genau das geschätzt: das Abtauchen in die völlige Anonymität. Jahrelang habe ich nicht einmal meine Nachbarn gekannt. Fehlende Eier oder Bohrmaschinen wurden nicht ausgeliehen, sondern gekauft. Jetzt wird wieder ausgeliehen. Wir waren hier im Westerwald noch nicht eingezogen, als wir mit den Nachbarn bereits auf Du waren. Sie stellen in unserer Abwesenheit unsere Mülltonnen raus und der Austausch elektronischen Werkzeugs funktioniert bestens. Und ein fehlendes Ei bekomme ich bestimmt auch anstandslos von einer meiner Nachbarinnen.

Aber bin ich nun wegen der Eier umgezogen? Nein. Oder zumindest nicht nur. Auch in Berlin hatte ich die vergangenen 11 Jahre eine tolle Nachbarschaft. Da hatte ich eben im Osten der Stadt gewohnt, in der ehemaligen DDR. Und da gab es mit den überwiegend noch alteingesessenen Ossis eine gute Nachbarschaft, in der auch mal Eier oder Bügeleisen ausgeliehen oder feucht-fröhliche Nachbarschaftsfeste gefeiert wurden. Unnett wurde es dort erst, als weitere Wessis zuzogen. Da lebte plötzlich die Ich-Gesellschaft auf, die Wir-Gemeinschaft schwand zusehens. Ist also der Großstadt-Wessi ein anderer als der Land-Wessi? Vielleicht.

Ich stell‘ mich dann mal vor

Jetzt hier im Westerwald sind die Wessis jedenfalls anders als in Berlin. Neulich klingelte es vormittags an der Haustür. Als ich öffnete, stand dort eine mir unbekannte ältere Dame. Sie stellte sich als Besitzerin eines unserer Nachbarhäuser vor, und sagte, sie habe geklingelt, um einfach mal „Guten Tag“ zu sagen und sich vorzustellen. Sie selbst wohne nicht in dem Haus und sei nur ab und zu mal da. Aber sie wohne nur ein paar Straßen weiter, wo sie vergangenes Jahr, mit ihren 70 Lenzen, hingeheiratet habe. Das alles wusste ich natürlich bereits – von unseren anderen Nachbarn. Aber egal, diese Geste, einfach zu klingeln, um Hallo zu sagen, fand ich sehr rührend. Wir verabschiedeten uns auf eine nächste Plauderei bei einem Glas Wein.

Genauso unkompliziert funktionierte auch die Vorstellung zu den anderen Nachbarschaftsseiten um unser Haus herum. Ein freundliches Hallo über den Zaun, eine kurze Plauderei, eine Einladung auf ein baldiges Bierchen auf der einen oder anderen Terrasse. Und alle sind sofort per Du.

Übern Zaun

Natürlich birgt das eben mal über den Zaun gucken auch seine Fallen. Hier kommen sie vielleicht herein, die Kleinbürgerlichkeit und Spießigkeit, vor der ich vor über 35 Jahren geflohen bin. Klar, gucke ich auch, wie es in Nachbars Garten aussieht und was auf der Wäscheleine hängt. Und mir ist auch klar, dass zurückgeschaut wird, vielleicht auch beurteilt und geurteilt wird. Und genau an dem Punkt ist jetzt alles anders. Eine Urteilerei, die mich früher unendlich gestört hat, die mich die Anonymität hat suchen lassen, diese Urteilerei ist mir heute völlig egal. Wer urteilen will, der urteile. Wer Gartenzwerge aufstellen will, soll dies bitte tun. Und wer meinen Bunte-Lichter-Garten crazy findet, soll das auch gerne tun. Jeder nach seiner Fasson, bitteschön.

Landleben reloaded

So ist nun meine Rückkehr aufs Land  von der Erkenntnis begleitet, dass es sich doch sehr angenehm lebt auf dem Ländchen. Die Wege sind kurz, Verkehrsstaus bestehen aus drei Autos vor der Einfahrt in den Kreisel, überall hat man Zeit für ein Schwätzchen, der Hausarzt hat jede Menge Parkplätze vorm Haus und einen Termin innerhalb von weniger als 12 Stunden frei. Zudem bin ich hier ganz entspannt Besitzerin einer Hotelkette – ich habe eine Bienenhotel und ein Marienkäferhotel. Es wachsen bereits Radieschen, Salat und Erdbeeren in meinem Garten. Und Heidelbeeren, Arionabeeren und Gojibeeren warten darauf, dass ich sie einpflanze.

Und was die Eier betrifft, gehen wir demnächst unter die Selbstversorger! Der Hühnerstall ist bereits in Planung. Und dann wird mit den Nachbarin über den Zaun Eier getauscht – und zwar ganz frisch gelegte.

Im fünften Jahr

Im fünften Jahr

Irgendwann hat wohl jeder schon einmal darüber sinniert, wie schnell doch die Zeit vergeht. Und auch wenn die Zeit an sich objektiv für alle gleich schnell (bzw. langsam) vergeht, ist sie doch etwas ganz und gar subjektiv Empfundenes.

Heute, am 20. Juni 2018, ist es fünf Jahre her, seit mein ersten Ehemann tödlich verunglückte. In diesen fünf Jahren bin ich durch die Hölle gegangen und in den Himmel geflogen. Das Leben hält alles bereit. Das Eine wie das Andere. Ich will nicht von Gutem oder Bösem, von positiv oder negativ sprechen. Alles ist das, was jeder Mensch daraus macht. Ganz eigenverantwortlich. Und so kann auch im Fürchterlichen ein Funken Hoffnung stecken, und am Ende einer Geschichte eine Zukunft beginnen.

Verbunden bleiben

Als Henry starb wusste ich sofort, aus unserer gemeinsamen Wohnung kann ich nicht ausziehen, jedenfalls nicht sofort. Manche Freunde rieten mir dazu. Ich sagte Nein und blieb. Denn hier fühlte ich mich ihm verbunden, enger verbunden als sonst wo. Diese Wohnung hatten wir zusammen ausgesucht und gemeinsam zu unserem Zuhause gemacht.

Mit den Jahren merkte ich jedoch wie diese Verbundenheit an diesem Ort schwand. Und das lag nicht daran, dass ich irgendwann mit einem anderen geliebten Menschen hier lebte. Nein, es war vielmehr so, dass ich merkte wie meinen Erinnerungen an Henry Flügel wuchsen. Ich begann Orte zu besuchen, an denen wir zusammen gewesen waren. Es war etwas, das mir zu Beginn sehr schwer fiel, denn es belebte den Schmerz über den Verlust. Doch je öfters ich an Orte kam, die mich mit Henry verbanden, desto leichter fiel es mir, dort an ihn zu denken und unserer Liebe nachzuspüren.

Es ist immer ein Denken in Liebe und Verbundenheit, in Freude und Dankbarkeit für die wunderbare Zeit, die wir zusammen hatten, auch wenn es noch nicht einmal sieben Jahre waren.

Orte der Verbundenheit

Viel haben wir unternommen in diesen Jahren. Wir waren in Budapest, in Paris und in London, in Venedig und Warschau, auf Kreta, in meinem geliebten Harz, in Franken, im Erzgebirge, auf der Zugspitze, an der Nordsee, auf Rügen und oft an unserem gemeinsamen Sehnsuchtsort, auf dem Darss. Wäre es anders gekommen und Henry und ich hätten weiter zusammen gelebt, eines Tages wären wir wahrscheinlich auf den Darss gezogen, dahin, wo wir uns verliebt haben.

Während ich diese Bildergalerie zusammenstelle, laufen meine Augen über von Tränen und ich lache mich kaputt. Es sind Tränen der Trauer, die nie ganz vergehen wird, und Tränen des Glücks, dass ich mit diesem Menschen eine Zeit leben und ihn erleben durfte. Und es sind herzliche Lacher in Erinnerung an einen großartigen Menschen, der ungemein witzig sein konnte und mit dem das Reisen ein großes Vergnügen war. Danke, mein geliebter Henry, für sechseinhalb wunderbare Jahre.

Zu neuen Ufern

Heute, am 20. Juni 2018, verlasse ich unseren gemeinsamen Ort, ziehe ich aus unserer Wohnung, die wir beide so sehr geliebt haben, aus. Es fühlt sich passend an, an diesem Tag aufzubrechen in ein neues Leben. Es wird anders sein, an einem Ort zu leben, an dem mich nichts mit Henry verbindet. Dennoch bleibt die Verbundenheit, in meinen Erinnerungen und in meinem Herzen. Für immer.

Rauhjahre – Rückblick auf eine Heimat

Rauhjahre – Rückblick auf eine Heimat

18 Jahre, 5 Monate und 19 Tage habe ich in Berlin gelebt.

Zum Jahrtausendwechsel kam ich in die Stadt. Erlebte hier größtes Glück und größtes Unglück. Habe hier geliebt, gelacht, geweint, getrauert, gelebt. Habe Freunde fürs Leben gefunden und Freunde an das Leben und den Tod verloren. Ich bin durch die Nächte getanzt und durch die Tage gewandert. Ich habe diese Stadt geliebt und gehasst. Die Stadt hat mich umarmt und getreten. Nirgendwo sonst wird Gegensätzlichkeit so kultiviert wie in Berlin.

Rauhjahre von Beginn an

Selten habe ich Berlin harmonisch und friedlich erlebt. Die Stadt ist immer in Rebellion, 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Mehr als 5.000 Demonstrationen wurden 2017 gezählt, das sind 13 pro Tag. 13 Mal täglich wird in Berlin die Haltung zelebriert gegen etwas zu sein. Nichts gegen Demonstrationen. Jeder möge bitte sein Recht ausüben für oder gegen etwas zu sein. Doch so eine Häufung von Protest macht etwas mit einer Stadt, hinterlässt Spuren, beeinflusst Atmosphären.

Viele der Menschen, die hier leben, sind jederzeit auf Krawall gebürstet. Berüchtigt ist die raue Berliner Herzlichkeit. Gleich in meinen ersten Berliner Tagen machte ich unvergessliche Bekanntschaft mit der damals noch weit verbreiteten „Freundlichkeit“ der Berliner Busfahrer, wurde angeschrien als ich versehentlich einen gerade pausierenden Bus besteigen wollte, so dass ich durch das laute Brüllen des Busfahrers förmlich rückwärts aus der Tür gepustet wurde. Inzwischen sind die (meisten) Berliner BusfahrerInnen wirklich sehr freundlich, so viel sei zu ihrer Entlastung gesagt. Doch die damalige Erlebnis hat mein Verhältnis zum öffentlichen Berliner Nahverkehr auf immer geprägt. Und für alle zukünftigen Berliner sei an dieser Stelle der legendäre Satz der Berliner U-Bahnfahrer erwähnt: „Mit’m Faaahrad nich‘ in ersten Wagen!“ Wer den nicht mindestens einmal gehört hat, darf sich nicht Berliner nennen.

Der ÖPNV ist über die Jahre zu einem meiner Lieblingsthemen hier in Berlin avanciert. Auch in diesem Blog war der hassgeliebte Berliner ÖPNV ja des öfteren Thema. Ich fand es immer großartig, dass man in dieser weitläufigen Stadt wirklich überall hinkommt mit den Öffis (wie auch der Berliner seine Busse und Bahnen liebevoll nennt). Theoretisch. Denn in der Praxis fuhren die Bahnen, besonders die S-Bahnen, oft genug nicht. 11 Jahre war ich auf die S-Bahn angewiesen, um zur Arbeit nach Mitte und wieder zurück nach Köpenick zu kommen, 11 Jahre des Leidens, 11 raue Jahre. Auf zugigen Bahnsteigen habe ich gebibbert, in ungeheizten Wagen gefroren. Kaum fiel eine Schneeflocke, brach der S-Bahn-Verkehr mit schöner Regelmäßigkeit zusammen. Es ist ein running gag, dass die Berliner S-Bahn vier Feinde hat: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Es ist in meiner Berliner Zeit leider auch viel zu oft eine Tatsache gewesen.

Wow, Berlin!

Berliner FernsehturmBerlin ist anstrengender geworden, je älter ich wurde. Als ich mit Mitte 30 hier ankam, hat mich das Pulsierende belebt. Es ging damit ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Denn bereits während des Studiums wollte ich nach Berlin ziehen, in die damals noch geteilte Stadt. Das hatte aus Gründen nicht geklappt. Am 2. Januar 2000 ergab sich dann endlich die berufliche Möglichkeit, auf die Welle der New-Economy-Bewegung aufzuspringen, die zwar bereits im Abschwingen war, dennoch wurde fleißig weiter streetgegolft und Sushis gemampft. Die Welle spülte mich damals mitten ins Herz der Stadt. Nach Mitte an den Hackeschen Markt, in die Rosenthaler Straße, wo mein Büro stand. Abends auf dem Heimweg nach Charlottenburg, wenn ich von der Rosenthaler kommend um die Ecke auf den Hackeschen Markt einbog, um zur S-Bahn zu gehen, war ich Tag für Tag überwältigt vom Anblick des Berliner Fernsehturms, der durch die Häuserschluchten lugte. Dann erschauderte ich förmlich und sagte mir: „Du bist in Berlin!“ Wow. Es war ein tolles Gefühl. Heute haben Bauten die Lücken geschlossen und die Sicht auf den sogenannten Telespargel vielerorts versperrt.

Berlin war damals die Stadt der Möglichkeiten und der Unverbindlichkeiten. Hier war es dem Nachbarn egal, wer Du warst und was Du tust. Kein Kleinstadtmief, sondern Großstadtduft. Besonders im Sommer habe ich diesen Großstadtduft geliebt. Der Duft von heißem Asphalt, Abgasen und Schweiß. Es klingt vielleicht wenig attraktiv, doch diese Duftmischung hat mich an Urlaub erinnert, an Städte wie Florenz oder Rom an einem brennend heißen Sommertag.

Im Winter dagegen wurde Berlin schnell zum Feind. Denn die Winter hier sind oft lang und rau, dauern gern auch mal von Anfang November bis Anfang Mai und lassen die Stadt regelmäßig in eine geduckte, kollektive Depression versinken.

Berlin wummert

In jungen Jahren tanzt man sich diese Depression weg. Berlin wummert 12 Monate im Jahr, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Gelegenheiten zum Tanzen gibt es genug. Doch mit dem Älterwerden kommt die Ruhe, da schwindet das Bedürfnis sich etwas wegzutanzen.

Meine Ruhe fand ich in Berlin durch den Umzug vom quirligen Ku’damm-Kiez in den beschaulichen Köpenicker Kiez. Jedenfalls war er damals, vor 11 Jahren noch beschaulich, fast wie eine Kleinstadt in der Großstadt. Heute wummert es auch in Köpenick. Zumindest von April bis Oktober, wenn die Partyboote am Wochenende im Halbstundentakt an unserem Balkon vorbeischippern oder auf dem Luisenhain gefeiert wird. Wasser trägt Schall weit. Die Spree als Partyzone im endlos dröhnenden Elektrobeat. Nichts, was ich wirklich haben will.

Und dann geistert seit ein paar Jahren auch noch dieses Wort durch Berlin. Ein Wort, was ebenfalls wenig bis gar nicht attraktivtätssteigernd für die Stadt wirkt: Verdichtung. Da haben die Städteplaner etwas erfunden, das in den meisten Fällen die Lebensqualität verschlechtert, und im Falle Berlins, diese Stadt dramatisch verändern wird.

Ja, es ist richtig, Berlin gewinnt mehr und mehr an Attraktivität. Und das ist auch gut so, um den ehemaligen Partybürgermeister zu zitieren. Nix gegen inspirierte Menschen, zieht alle her! Belebt diese Stadt! Doch, wo sollen all die Menschen wohnen, fragten sich wohl irgendwann die Stadtplaner. Das war vermutlich der Tag, an dem Berlin die Verdichtung für sich entdeckte.

Inzwischen wird jede Brache bebaut, jeder freie Fleck verdichtet. Statt auf alte, sich im Wind wiegende Bäume, schaue ich inzwischen auf Beton. Und die Verdichtung nimmt kein Ende. Im Herbst wird in unserer Straße hier weiter abgerissen und neu aufgebaut. Weitere x-hundert Wohnungen braucht das Land. Doch diesen Baustaub werde ich nicht mehr einatmen.

Goodbye, Stadt meiner einstigen Träume!

Berlin, du warst großartig und grausam. Ich danke dir für jede Erfahrung, die ich mit dir machen durfte. Sie hat viel dazu beigetragen, dass ich heute die bin, die ich bin. Ich habe dich geliebt und gefürchtet. Nun verlasse ich dich. Für immer? Wer weiß das schon. Das Leben ist kurvenreich und niemand kann sagen, was hinter der nächsten Biegung passiert. Es ist kein Abschied auf ewig. Denn Freunde wollen hier besucht, Feste gefeiert und Gräber mit Rosen bekränzt werden. Doch wenn ich zurückkomme, wird es anders sein als jetzt. Ich komme als Besucherin zurück, nicht mehr als Teil dieser Stadt. Ich werde eine andere Stadt Heimat nennen und dort in ein wohliges, vertrautes Heim zurückkehren, zurück aus dieser rauen Stadt, die ich fast 19 Jahre lang „Heimat“ nennen durfte.

Tschüss Berlin. Danke.

Mein Freund, der Baum

Mein Freund, der Baum

„Mehr Licht“. Goethe tat diesen Ausspruch wahrscheinlich nicht, weil ein eben vor seinem Fenster gefällter Baum mehr Licht auf den Dichter im Sterbebett fallen ließ. Dennoch benannte der Naturforscher im Dichter damit das Phänomen, was gemeinhin mit dem Fällen von Bäumen verbunden ist. In Fenster, Räume und Wohnungen fällt mehr Licht. Und damit sind wir auch schon am Ende der Positivliste, was das Bäumefällen betrifft.

Ja, er mag morsch gewesen sein und deshalb gefährlich für die unter ihm grillenden und feiernden Angler des ortsansässigen Angel- und Bootsvereins. Selbstverständlich geht Sicherheit vor Schönheit. Und nochmal Ja, es mag wichtigere Themen geben, die den Weltfrieden bedrohen. Natürlich sind Kriege, Hunger, Armut, Korruption und Paradise Papers die dringlicheren Probleme, die es zu lösen gilt. Und dennoch. Es gibt eben auch Bäume, die wichtig sind. Und irgendwie hängt das Fällen „meines“ Baumes auch mit Panama, Paradise und den internationalen Immobilienspekulanten zusammen.

Denn wäre nicht der Berliner Wohnraum so begehrt, hätte der nette, ältere Herr Nachbar aus der entzückenden Jugendstil-Villa von nebenan, vermutlich nicht die seit Jahrzehnten vor sich hin dämmernde Brache mit Wasserblick verkauft. Auch würden die vielen anderen schönen Bäume noch dort stehen, die bereits in den vergangenen Jahren ihr vorzeitiges Ende im laut vor sich hin röhrenden Häcksler eines Baumentsorgers fanden. Und auch die Jugendstilvilla würde weiter inmitten der idyllischen Gartenbrache ihren Traum weiterträumen, sie sei ein verwunschenes Schloss. Heute steht das vermeintliche Schloss verängstigt geduckt inmitten von grauen Betonblöcken, die das kleine Schlösschen mit seinen Türmchen wie böse Riesen argwöhnisch von oben herab beäugen.

Immobilienblase, ick hör‘ dir platzen

Argwöhnisch beäugt wurde auch die besagte Baustelle – von meinen Nachbarn und von mir. Denn selbstverständlich verändert sich ein Kiez, wenn in großer Zahl gebaut wird, zum Guten wie zum Schlechten. Gemunkelt wurde über die Bauten so einiges in den vergangenen Jahren. Meistbietend an solvente Chinesen und neureiche Russen soll der schöne Wohnraum mit Wasserblick verkauft worden sein. Selbstverständlich nur als Investition. Die Paradise Papers lassen grüßen.

Nun, egal, wer mit seinem Geld nirgendwo hin weiß, kauft sich ’ne Wohnung in Übersee. Auch wenn manch einer von den Alteingessesenen hier am Ort vielleicht heimlich vor sich hin berlinert hat, „Immobilienblase, ick hör‘ dir platzen“, war dem bislang nicht so. Es wurde gebaut, und inzwischen wird sogar schon bewohnt. Wer von den Neukäufern und Neumietern allerdings nach den hübschen Bildchen im Projektierungsprospekt der Immobilienfirma seine Traumwohnung ausgewählt hat, wurde spätestens heute bitter enttäuscht. Versprochen wurde den Käufern/Mietern eine zauberhafte Wohnlage am Wasser inmitten eines herrlichen Baumbestandes. Auf den Fotos der Immobilienfirma hörte man die altehrwürdigen, großen Bäume beinahe rauschen, sanft im Wind tanzend zur träg und leise dahinplätschernden Spree.

Tja, einst sah es hier tatsächlich so aus. Seit heute gehören diese Bilder der Vergangenheit an.

Als ich hier einzog, es war Hochsommer, faszinierte mich nicht unbedingt der pittoreske Blick auf die Köpenicker Altstadt, mich nahm eher die Aussicht zur anderen Seite ein. Alte, riesengroße Bäume, mit ihren Köpfen Richtung Spree nickend, als wollten sie aus dem Fluss trinken. Und einer davon war besonders eindrucksvoll. Durch das Jahr hindurch bezauberte die Eiche mit ihrem wechselnden Blätterkleid. Im Frühling hob sich ihr frisches, zartes Grün klar gegen den himmelblauen Himmel ab. Im Herbst legte sie ihr strahlendes gelbes Kleid an, das allmählich von Rot- zu Brauntönen wechselte und in der Abendsonne wunderschön leuchtete.

Vorbei.

Seit heute ist dieser Baum Geschichte und Erinnerung. In meiner Erinnerung werden diese Bilder bleiben, er war

Mein Freund, der Baum

Tschüss Baum, du warst ein treuer Begleiter über zehn Jahre an der Spree. Hast mein Herz stets erfreut und mir das Wunder der Natur gezeigt. Heute ist mir schwer zu Mute. Mein Herz weint. Arg sind die Bilder deines Niedergangs unter der kreischenden Motorsäge.

 

Es war vielleicht nur ein Baum. Und vielleicht wäre er auch bald von selbst gefallen, weil er irgendwann alt, krank und morsch gewesen wäre. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

Jahr 4

Jahr 4

Es gibt eine Mauer in Gaza. Auf dieser Mauer stehen viele Sprüche. Ich habe dort auch mal einen hinschreiben lassen. Das war ein Projekt zweier Niederländer, wenn ich es recht entsinne. Dieses Projekt sollte arbeitslose Palästinenser unterstützen und ein Symbol des Krieges in Frieden verwandeln.

Ich fand das Projekt damals gut. Und ich wusste auch sofort, was ich auf diese Mauer schreiben lassen wollte. Eine Liebeserklärung an meinen Mann. Meinen damaligen Mann. Meinen ersten Mann. Mein Mann der genau heute vor vier Jahren tödlich verunglückte.

Als ich die Botschaft dort in Gaza beauftragte, lebte er noch. Wir waren noch gemeinsam glücklich und hatten noch vieles vor. „Vielleicht fahren wir auch mal nach Gaza, um deine Liebeserklärung zu suchen“, hatte mein Mann damals vorgeschlagen als ich ihm dieses Graffiti aus einer staubigen Wüste an 2012 Weihnachten schenkte.

Vielleicht fahre ich irgendwann mal hin. Wer weiß schon, was morgen passiert. Es können ganz wunderbare Dinge sein, wenn man die Kraft hat, sie zuzulassen. Ich hatte sie, und dafür bin ich dankbar und glücklich. Ich bin dankbar und glücklich für jeden Tag, für ein erfülltes, gemeinsames Leben mit dem Mann, den ich traf, um nach Trauer und Verlust wieder voll und ganz im Leben zu sein und in meinem Sein.