So wird man geweckt an Leonhardi. Ein ohrenzerfetzender Kanonenschlag riss die Menschen um Punkt sechs Uhr aus dem
Tiefschlaf. Erst dachte ich, ich hätte den Lärm geträumt. Doch im
Minutenabstand folgten vier weitere Donnerschläge, die durch das enge Weissachtal hallten wie die Peitschenhiebe eines Riesen. Als potenziell andere denkbare Möglichkeit zog ich blitzschnell in Betracht, dass die Österreicher einen auf Putin machen und sich überlegt hätten mal eben Bayern zu annektieren. Unmittelbar nach den Kanonen einsetzendes Kirchengeläut bestätigte mich in dieser Annahme. Hier war Großes im Gange.
Den Kragen gerichtet zur Leonhardifahrt 2014 in Kreuth |
Der Morgen war heller als gedacht. Denn zu allem lärmigen Übel hatte es in der Nacht begonnen zu schneien. Ein leichter, weißer Flaum bedeckte Berge, Wiesen, Felder und Dächer. Schön. Vor allem schön kalt. Schon bald sollte ich es ein wenig bereuen, nicht doch die dickste Winterjacke aus meinem Schrank mitgenommen zu haben. Doch was sollten da erst die trachtengewandeten Frauen sagen, die bunt geschürzt und leicht behütet in ihren Dirndln zu Leonhardi nach Kreuth gekommen waren? Doch diese Frauen sind Profis. Die fahren jedes Jahr im November auf offenen Kutschen durchs Dorf. Und wie der Batznhäusl-Wirt abends zuvor versicherte, sei es die
vergangenen Jahre „an Leonhardi imma schlecht’s Wetter gewes’n“. Und so konnte ich denn beobachten, dass man unterm Dirndl durchaus mehrlagig wärmende Wolle tragen kann. In den hölzernen Wagen der Leonhardi-Prozession saß man zudem in dicke Decken gehüllt. Und für die innere Hitze wanderte später auch die Flasche Hochprozentiger von Frau zu Frau.
„Leonhardi?“ fragt sich jetzt sicher der ein oder andere säkularisierte Westeuropäer, „was ist das denn?“. Mit dem Zünden der besagten fünf Kanonenschläge morgens um sechs wurde in Kreuth am Tegernsee der Tag des heiligen Leonhard sozusagen
eingeläutet. Leonhard ist der Schutzpatron des Viehs, vor allem des Pferdeviehs. Und nach mehr als 500-jähriger Tradition zieht man in manchen Orten Bayern an diesem 6. November mit geschmückten
Pferden ums Dorf und lässt die Viecherl vom ansässigen Pfarrer oder dem eigens angereisten Abt segnen.
Vor dem Kirchgang |
Der Kreuther Leonhardiritt ist einer der ältesten Bayerns. Und es ist wirklich eine schöne Tradition. Selbst mir als Atheistin gefiel dieses Spektakel ausnehmend gut. Alle sind festlich in wunderhübsche Trachten gekleidet. Die Männer mit prächtigen geschmückten Hüten, Blumen und Federn im Hutband, mit strammen Waden in den Krachledernen, mit Äxten, Säbeln und Büchsen bewehrt. Die Frauen alle in schwarzen, knöchellangen Dirndln mit bunten Schürzen von hellblö, über schiefergrö bis lilö. Und
alle, wirklich alle Frauen tragen das Haar festlich als Knoten am Hinterkopf mit schmuckvollen Nadeln gesteckt, behütet von kleinen, keck in die Stirn geschobenen schwarzen Filzhüten umrandet mit einer hellen Strohkappe. Schwarze
Schultertücher mit langen, glänzenden Fransen, Blumengestecke in den Ausschnitten und kleine Strohkörbchen oder -taschen komplettieren das Ensemble.
Und manche Frau trug sogar einen Fuchs um den Hals.
Kopfschmuck zu Leonhardi 2014 |
Erst der Kirchgang und dann dreimal ums Dorf. Soweit der Ablauf. Die Atmosphäre war zunächst festlich ruhig. Der Gottesdienst, der per Lautsprecher auf die Straße übertragen wurde, ließ auch die Zaungäste in stiller Eintracht verharren. Kein Wort wurde gesprochen und alle bewegten sich, wenn überhaupt, nur äußerst
langsam und vorsichtig. Bei der ersten Runde ging es in den offenen Kutschen noch sehr gemessen zu. Bei der Segnung durch den Abt beteten die Frauen Rosenkränze, die Männer salutierten. Etwa 30 mit Kränzen geschmückte offene Gespanne zogen die
stolzen, starken, festlich geschirrten Kaltblüterpferde, schwarze, braune, weiße und gescheckte, am Weihwasser sprengenden Abt vorbei. Und auch einige Reiter hoch zu Ross erhielten den göttlichen Segen. Irgendwann in der zweiten Dorfumrundung fiel die Anspannung von den Umzüglern ab. Jetzt wurde gelacht und
geschwatzt, bekannte Gesichter am Straßenrand entdeckt und gewinkt. Und schließlich war das Dorf dreimal umrundet und die Formation begann sich aufzulösen. Die Damen entstiegen per Leitern den Wagen, die Pferde wurden ausgespannt, die Kutschen auf Anhänger verladen. Man stand in Gruppen und Grüppchen zusammen und freute sich auf die heiße Leberknödelsuppe im Leonhardstoana Hof. Leonhardi 2014 war geschafft.
Und mag man auch Trachten und Traditionen skeptisch
gegenüber stehen, es hat wohl seinen Sinn in der Welt. Auch heute noch. Denn eines war diese Veranstaltung ganz sicher: entspannt und friedlich und frei von Überflüssigem.
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