18 Jahre, 5 Monate und 19 Tage habe ich in Berlin gelebt.
Zum Jahrtausendwechsel kam ich in die Stadt. Erlebte hier größtes Glück und größtes Unglück. Habe hier geliebt, gelacht, geweint, getrauert, gelebt. Habe Freunde fürs Leben gefunden und Freunde an das Leben und den Tod verloren. Ich bin durch die Nächte getanzt und durch die Tage gewandert. Ich habe diese Stadt geliebt und gehasst. Die Stadt hat mich umarmt und getreten. Nirgendwo sonst wird Gegensätzlichkeit so kultiviert wie in Berlin.
Rauhjahre von Beginn an
Selten habe ich Berlin harmonisch und friedlich erlebt. Die Stadt ist immer in Rebellion, 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Mehr als 5.000 Demonstrationen wurden 2017 gezählt, das sind 13 pro Tag. 13 Mal täglich wird in Berlin die Haltung zelebriert gegen etwas zu sein. Nichts gegen Demonstrationen. Jeder möge bitte sein Recht ausüben für oder gegen etwas zu sein. Doch so eine Häufung von Protest macht etwas mit einer Stadt, hinterlässt Spuren, beeinflusst Atmosphären.
Viele der Menschen, die hier leben, sind jederzeit auf Krawall gebürstet. Berüchtigt ist die raue Berliner Herzlichkeit. Gleich in meinen ersten Berliner Tagen machte ich unvergessliche Bekanntschaft mit der damals noch weit verbreiteten „Freundlichkeit“ der Berliner Busfahrer, wurde angeschrien als ich versehentlich einen gerade pausierenden Bus besteigen wollte, so dass ich durch das laute Brüllen des Busfahrers förmlich rückwärts aus der Tür gepustet wurde. Inzwischen sind die (meisten) Berliner BusfahrerInnen wirklich sehr freundlich, so viel sei zu ihrer Entlastung gesagt. Doch die damalige Erlebnis hat mein Verhältnis zum öffentlichen Berliner Nahverkehr auf immer geprägt. Und für alle zukünftigen Berliner sei an dieser Stelle der legendäre Satz der Berliner U-Bahnfahrer erwähnt: „Mit’m Faaahrad nich‘ in ersten Wagen!“ Wer den nicht mindestens einmal gehört hat, darf sich nicht Berliner nennen.
Der ÖPNV ist über die Jahre zu einem meiner Lieblingsthemen hier in Berlin avanciert. Auch in diesem Blog war der hassgeliebte Berliner ÖPNV ja des öfteren Thema. Ich fand es immer großartig, dass man in dieser weitläufigen Stadt wirklich überall hinkommt mit den Öffis (wie auch der Berliner seine Busse und Bahnen liebevoll nennt). Theoretisch. Denn in der Praxis fuhren die Bahnen, besonders die S-Bahnen, oft genug nicht. 11 Jahre war ich auf die S-Bahn angewiesen, um zur Arbeit nach Mitte und wieder zurück nach Köpenick zu kommen, 11 Jahre des Leidens, 11 raue Jahre. Auf zugigen Bahnsteigen habe ich gebibbert, in ungeheizten Wagen gefroren. Kaum fiel eine Schneeflocke, brach der S-Bahn-Verkehr mit schöner Regelmäßigkeit zusammen. Es ist ein running gag, dass die Berliner S-Bahn vier Feinde hat: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Es ist in meiner Berliner Zeit leider auch viel zu oft eine Tatsache gewesen.
Wow, Berlin!
Berlin ist anstrengender geworden, je älter ich wurde. Als ich mit Mitte 30 hier ankam, hat mich das Pulsierende belebt. Es ging damit ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Denn bereits während des Studiums wollte ich nach Berlin ziehen, in die damals noch geteilte Stadt. Das hatte aus Gründen nicht geklappt. Am 2. Januar 2000 ergab sich dann endlich die berufliche Möglichkeit, auf die Welle der New-Economy-Bewegung aufzuspringen, die zwar bereits im Abschwingen war, dennoch wurde fleißig weiter streetgegolft und Sushis gemampft. Die Welle spülte mich damals mitten ins Herz der Stadt. Nach Mitte an den Hackeschen Markt, in die Rosenthaler Straße, wo mein Büro stand. Abends auf dem Heimweg nach Charlottenburg, wenn ich von der Rosenthaler kommend um die Ecke auf den Hackeschen Markt einbog, um zur S-Bahn zu gehen, war ich Tag für Tag überwältigt vom Anblick des Berliner Fernsehturms, der durch die Häuserschluchten lugte. Dann erschauderte ich förmlich und sagte mir: „Du bist in Berlin!“ Wow. Es war ein tolles Gefühl. Heute haben Bauten die Lücken geschlossen und die Sicht auf den sogenannten Telespargel vielerorts versperrt.
Berlin war damals die Stadt der Möglichkeiten und der Unverbindlichkeiten. Hier war es dem Nachbarn egal, wer Du warst und was Du tust. Kein Kleinstadtmief, sondern Großstadtduft. Besonders im Sommer habe ich diesen Großstadtduft geliebt. Der Duft von heißem Asphalt, Abgasen und Schweiß. Es klingt vielleicht wenig attraktiv, doch diese Duftmischung hat mich an Urlaub erinnert, an Städte wie Florenz oder Rom an einem brennend heißen Sommertag.
Im Winter dagegen wurde Berlin schnell zum Feind. Denn die Winter hier sind oft lang und rau, dauern gern auch mal von Anfang November bis Anfang Mai und lassen die Stadt regelmäßig in eine geduckte, kollektive Depression versinken.
Berlin wummert
In jungen Jahren tanzt man sich diese Depression weg. Berlin wummert 12 Monate im Jahr, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Gelegenheiten zum Tanzen gibt es genug. Doch mit dem Älterwerden kommt die Ruhe, da schwindet das Bedürfnis sich etwas wegzutanzen.
Meine Ruhe fand ich in Berlin durch den Umzug vom quirligen Ku’damm-Kiez in den beschaulichen Köpenicker Kiez. Jedenfalls war er damals, vor 11 Jahren noch beschaulich, fast wie eine Kleinstadt in der Großstadt. Heute wummert es auch in Köpenick. Zumindest von April bis Oktober, wenn die Partyboote am Wochenende im Halbstundentakt an unserem Balkon vorbeischippern oder auf dem Luisenhain gefeiert wird. Wasser trägt Schall weit. Die Spree als Partyzone im endlos dröhnenden Elektrobeat. Nichts, was ich wirklich haben will.
Und dann geistert seit ein paar Jahren auch noch dieses Wort durch Berlin. Ein Wort, was ebenfalls wenig bis gar nicht attraktivtätssteigernd für die Stadt wirkt: Verdichtung. Da haben die Städteplaner etwas erfunden, das in den meisten Fällen die Lebensqualität verschlechtert, und im Falle Berlins, diese Stadt dramatisch verändern wird.
Ja, es ist richtig, Berlin gewinnt mehr und mehr an Attraktivität. Und das ist auch gut so, um den ehemaligen Partybürgermeister zu zitieren. Nix gegen inspirierte Menschen, zieht alle her! Belebt diese Stadt! Doch, wo sollen all die Menschen wohnen, fragten sich wohl irgendwann die Stadtplaner. Das war vermutlich der Tag, an dem Berlin die Verdichtung für sich entdeckte.
Inzwischen wird jede Brache bebaut, jeder freie Fleck verdichtet. Statt auf alte, sich im Wind wiegende Bäume, schaue ich inzwischen auf Beton. Und die Verdichtung nimmt kein Ende. Im Herbst wird in unserer Straße hier weiter abgerissen und neu aufgebaut. Weitere x-hundert Wohnungen braucht das Land. Doch diesen Baustaub werde ich nicht mehr einatmen.
Goodbye, Stadt meiner einstigen Träume!
Berlin, du warst großartig und grausam. Ich danke dir für jede Erfahrung, die ich mit dir machen durfte. Sie hat viel dazu beigetragen, dass ich heute die bin, die ich bin. Ich habe dich geliebt und gefürchtet. Nun verlasse ich dich. Für immer? Wer weiß das schon. Das Leben ist kurvenreich und niemand kann sagen, was hinter der nächsten Biegung passiert. Es ist kein Abschied auf ewig. Denn Freunde wollen hier besucht, Feste gefeiert und Gräber mit Rosen bekränzt werden. Doch wenn ich zurückkomme, wird es anders sein als jetzt. Ich komme als Besucherin zurück, nicht mehr als Teil dieser Stadt. Ich werde eine andere Stadt Heimat nennen und dort in ein wohliges, vertrautes Heim zurückkehren, zurück aus dieser rauen Stadt, die ich fast 19 Jahre lang „Heimat“ nennen durfte.
Tschüss Berlin. Danke.
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